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Denn sie fürchten den Tod nicht: Coronavirus-Update

Innerhalb eines Tages sind in Brasilien und Mexiko so viele Opfer der Corona-Pandemie gemeldet worden wie noch nie zuvor. In beiden Ländern starben jeweils mehr als 1000 Menschen nach einer Infektion. Täglich haben wir mehr als 4000 neue Fälle. Insgesamt sind wir jetzt in Mexiko bei einer Gesamt-Zahl an Toten von über 26 Tausend (bei einer Einwohnerzahl von 129 Millionen). Geht man von einer Gesamtzahl an Corona-Infizierten von 10x mehr als Toten aus, liegen wir hier mit über 260 Tausend Infizierten bei einem Prozentsatz von 0,2%

In Lateinamerika kostet die Corona-Pandemie immer mehr Menschen das Leben. Sowohl die Behörden in Mexiko als auch in Brasilien meldeten binnen eines Tages so viele Todesopfer wie nie zuvor.

Das mexikanische Gesundheitsministerium spricht inzwischen von insgesamt mehr als 11.700 Todesopfern, die infolge einer Infektion mit dem neuartigen Virus gestorben sind. Allein in den vergangenen 24 Stunden seien landesweit fast 1100 weitere Todesfälle gemeldet worden und damit 470 mehr als noch tags zuvor. Derzeit seien in Mexiko mehr als 101.200 bestätigte Infektionen bekannt.

Trotz der steigenden Opferzahl hob die Landesregierung zum Wochenbeginn einige Einschränkungen gegen die Ausbreitung des Virus auf. So durften einige Betriebe, die nicht als essenziell gelten, ihre Arbeit wieder aufnehmen. Präsident Andrés Manuel López Obrador spricht von einer "neuen Normalität", zu der sein Land finden müsse.

Sowohl in Brasilien als auch in Mexiko dürfte die Zahl an Infizierten aber noch deutlich höher liegen, da beide Länder nicht genügend Kapazitäten besitzen, um die eigene Bevölkerung ausreichend auf das Coronavirus zu testen.

Jagd in geschützten Regenwäldern, Fischerei in Lagunen: In Mexiko zwingt die Corona-Krise Menschen, die normalerweise im Tourismus arbeiten, plötzlich zur Selbstversorgung.

Von Anne-Katrin Mellmann, ARD-Studio Mexiko-Stadt

Von außen betrachtet ist Rafael Alvarez' Heimat paradiesisch: Er lebt in dem Dorf Chiquilá auf Mexikos Halbinsel Yucatán. Rundherum ist Dschungel, gegenüber liegt die Insel Holbox mit weißen Sandstränden vor smaragdgrünem Wasser - Palmen und sanft plätschernde Karibik, soweit das Auge reicht.

Aber Alvarez und seine Nachbarn kämpfen seit dem Ausbruch der Corona-Pandemie ums Überleben. Die letzten Touristen habe er im März zum zweieinhalb Stunden entfernten Flughafen Cancún gefahren, erzählt der 25-Jährige. Er ist bei einem Transportunternehmen angestellt:

"Hier leben alle vom Tourismus. Ob im Transport, in Hotels, Restaurants oder Souvenirgeschäften. Deswegen trifft uns der Stillstand extrem. Ich wurde sofort nach Hause geschickt, zunächst mit 50 Prozent Lohn, dann nur noch 30 Prozent. Jetzt habe ich im Monat weniger als 80 Euro. Davon muss ich meine Familie ernähren. Zum Überleben reicht das nicht."

"Wir jagen jetzt Gürteltiere"

Im Gegensatz zu Zehntausenden Tourismusarbeitern, die in der lahmgelegten Großstadt Cancún über die Runden kommen müssen, haben Alvarez und die anderen Dorfbewohner das Glück, inmitten reicher Natur zu leben, dem Schutzgebiet Yum Balam:

"Wir müssen Alternativen suchen, zum Beispiel zur Jagd gehen oder Fischen, damit wir etwas zum Essen haben. Neulich hat sich eine kleine Gruppe, die jagen wollte, im Dschungel verlaufen. Die Dorfbewohner haben sie erst nach vier Tagen gefunden. Wir kennen uns damit eben nicht mehr aus. Wir jagen jetzt Rehe, Gürteltiere und Wildschweine. Es gibt Lagunen im Dschungel, in denen ich fische. Damit meine Familie Proteine auf den Tisch bekommt."

Polizei drückt beide Augen zu

Vor Corona hat Alvarez nur manchmal zum Vergnügen geangelt. Die Jagd sah er als kleiner Junge bei seinen Großeltern. Nie habe er sich vorstellen können, dass das im 21. Jahrhundert noch einmal nötig würde. Die Polizei drücke alle Augen zu, solange die Dorfbewohner im Schutzgebiet nur für den Eigenbedarf jagen und fischen. Zum Kochen holen sie Holz aus dem Wald, weil sie sich Gas im Moment nicht leisten können.

In ihrem Bundesstaat Quintana Roo, in dem etwa eine halbe Million Menschen direkt oder indirekt vom Tourismus abhängen, hoffen die Hoteliers, in der zweiten Junihälfte wieder öffnen zu können:

"Es wäre eine sehr gute Nachricht, wenn die Insel Holbox wieder für Touristen öffnen könnte. Diese Nachricht würde ich unseren Freunden aus Deutschland, Frankreich und Spanien sehr gern überbringen. Was sie wissen sollten: Es gibt in meinem Dorf und auf der Insel - Gott sei Dank - überhaupt keine Covid-19-Fälle. Ihr könnt also kommen und euch an den weißen Stränden und dem türkisfarbenen Meer erfreuen. Es ist alles wunderschön wie immer."

Und im Moment sogar auch menschenleer - allerdings unerreichbar.

Wo Ärzte gejagt und Krankenstationen attackiert werden, man große Hochzeiten feiert und der Präsident im Fernsehen geschönte Zahlen präsentiert: über den kollektiven Corona-Verdrängungswettbewerb Mexikos.

Von Airen

-Aktualisiert am 13.06.2020-21:49

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Wer wissen will, wie gut sich Mexiko in der Corona-Krise schlägt, muss nur jeden Morgen um sieben Uhr Ortszeit die Pressekonferenz einschalten, die Präsident López Obrador im Nationalpalast von Mexiko-Stadt abhält. Das Virus? Gezähmt. Die Infektionskurve? Längst abgeflacht. Der Verlauf? Besser als in den meisten anderen Ländern. Überhaupt: Das Virus komme wie gerufen, passend wie ein Ring auf den Finger. „Vamos bien!“, so das Mantra des Staatsoberhaupts, „wir sind auf einem guten Weg“.

Draußen, vor dem Palacio Nacional, herrscht eine andere Realität. In den Krankenhäusern der Hauptstadtregion kämpfen in diesen Tagen 1500 Menschen an Beatmungsschläuchen um ihr Leben. Auf den Straßen von Mexiko-Stadt, Acapulco und Tijuana sterben Infizierte, abgewiesen von einem überfüllten Krankenhaus nach dem anderen. Innerhalb weniger Wochen ist Mexiko in der weltweiten Corona-Statistik weit nach vorn gerückt, mit über 16.000 Verstorbenen steht es mittlerweile an 14. Stelle. Tatsächlich gehen Experten und NGOs von dreimal so vielen aus.

Kaum irgendwo auf der Welt klaffen Fallzahlen und gefühlte Wirklichkeit so weit auseinander wie in Mexiko. Nicht nur die Regierung übt sich in Realitätsverweigerung. Auch weite Teile der Bevölkerung wollen das Virus nicht wahrhaben. In Chiapas attackiert ein Mob eine mobile Krankenstation und zündet das Haus des Bürgermeisters an, überzeugt, das Virus sei eine Erfindung. In einem Dorf in der Sierra von Oaxaca wird der einzige Arzt aus dem Ort gejagt, weil er bei einem Verstorbenen das Coronavirus nachwies. In Chihuahua beschießen Dorfbewohner ein Reinigungsfahrzeug beim Desinfizieren der Straßen. Es häufen sich Überfälle und Chlorattacken auf medizinisches Personal, während immer wieder Nachrichten von gut besuchten Hochzeits- und Geburtstagsfeiern die Runde machen.

In der Rolle des jovialen Onkels

Statt die Krankheit zu bekämpfen, richten viele Mexikaner ihre Wut gegen deren Symptome. Statt die Epidemie einzudämmen, verbannt man alles, was an sie erinnert. Ein kollektiver Verdrängungswettbewerb, angeführt vom Präsidenten selbst. Andrés Manuel López Obrador, genannt AMLO, ist ein begnadeter Populist, ausgestattet mit einem feinen Gespür für die Sehnsüchte der Massen. In der Corona-Krise entscheidet er sich für die Rolle des jovialen Onkels, der seine Schützlinge beruhigt, indem er ihnen eine schöne Geschichte vorliest.

Während die Kurve der Corona-Toten exponentiell ansteigt, ist sie bei AMLO „abgeflacht“, gar „horizontal“. Während sich die Zahl der Infizierten alle vierzehn Tage verdoppelt, wiederholt AMLO seit Wochen, die Pandemie sei „gezähmt“. Als im ganzen Stadtgebiet nur noch in zwei Krankenhäusern Intensivbetten frei waren, verkündete er vor versammelter Presse, ein Überlaufen der Krankenhäuser habe man abwenden können.

AMLOs Beliebtheit tut das keinen Abbruch. Trotz täglich neuer Corona-Rekordzahlen liegen seine Zustimmungswerte weit über sechzig Prozent. Hand in Hand begeben sich Präsident und Anhänger in eine alternative Wohlfühl-Wirklichkeit, abgelöst von Fakten und Statistik.

Ist Obrador ein Gaukler, der das Volk an der Nase herumführt? Oder gibt hier nur einer genau das Stück, nach dem das Publikum verlangt? Sender und Empfänger befinden sich in einer Rückkopplungsschleife, aus deren Zusammenspiel die perfekte Illusion entsteht. Sucht man die Ursachen für das einverständliche Ausblenden der Wirklichkeit, lohnt sich ein Blick auf die Kultur und Geschichte des Landes. Fünf Faktoren fallen ins Auge:

Erstens: ein tief verwurzelter Wunder- und Aberglaube. Unvergessen der Moment, als AMLO Mitte März vor versammelter Presse einen Stofffetzen aus der Jackettasche fummelte und verkündete, dieses Amulett bilde neben seiner ausgesprochenen Ehrlichkeit seinen Schutzschild gegen das Coronavirus. Das weitverbreitete Mindset: Was zählt, sind Gottvertrauen und positives Denken. Der unerschütterliche Glaube an das Gute wehrt das Unheil ab.

Zweitens: ein tiefsitzendes Misstrauen gegenüber Eliten. „Ginge es nach den Experten mit ihrem sicheren Einkommen“, ätzte AMLO kürzlich, „dann müssten wir für immer zu Hause bleiben.“ Die Warnungen der Gesundheitsexperten stören sein Bild von der gezähmten Pandemie. Die Wahl gewann AMLO auch wegen der Empörung vieler, die sich vom bisherigen Wirtschafts- und Sozialmodell ausgegrenzt fühlten. Passend zu seiner bewährten Klassenkampf-Rhetorik richtet er die Empörung nun auf die Eliten – sprich: die „Konservativen, die möchten, dass das Virus dem Land schadet“. Der Jubel seiner Anhänger ist ihm sicher.

Ein traditionell eher lässiges Verhältnis zum Tod

Drittens: die Desensibilisierung durch die Narco-Gewalt. Als Ende April erstmals mehr als hundert Menschen an einem Tag dem Virus erlagen, war das vielen Zeitungen eine Nachricht wert. Allerdings nicht wegen der Zahlensymbolik – sondern weil das Virus nun mehr Menschen umbrachte als die Gewalt der Kartelle. 35.588 Morde pro Jahr – das ist die Messlatte. In einem Land, in dem Massengräber und Enthauptungen zum Alltag gehören, haben es Schlagzeilen über ein tödliches Virus schwer, die Reizschwelle zu überschreiten.

Viertens: ein traditionell eher lässiges Verhältnis zum Tod. Nationalpoet Octavio Paz sinnierte einmal darüber, „wie wenig der Tod uns zu schrecken vermag. Sterben ist natürlich, sogar wünschenswert: je früher, desto besser. Unsere Geringschätzung des Todes ist also die Kehrseite unserer Geringschätzung des Lebens.“ Das aztekische Konzept von Leben und Tod als Teil eines kosmischen Kreislaufs ist bis heute tief in der Volksseele verwurzelt. Warum also wegen einer tödlichen Seuche gleich alles stehen und liegen lassen?

Fünftens: Zweckoptimismus. Mehr als die Hälfte der arbeitenden Bevölkerung Mexikos arbeitet im irregulären Sektor. Jeder Tag ohne Einkommen bedeutet für sie eine existentielle Bedrohung. Weil die Regierung kaum Verbote durchsetzt und sich stattdessen auf Mahnungen und Empfehlungen beschränkt, arbeiten viele weiter – egal wie bedrohlich die Zahlen ansteigen. Wer er es sich nicht leisten kann, der Virusgefahr zu entgehen, ist empfänglicher für die tröstliche Mär von der gebannten Gefahr.

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